Mittwoch, 18. Dezember 2013

VOM FÖRDERN + FORDERN UND GEBEN UND LIEBEN + ÜBEN + SEHNSUCHT


BÖTTCHER-NEWSLETTER 12/2013

VOM FÖRDERN + FORDERN UND GEBEN UND LIEBEN + ÜBEN + SEHNSUCHT


Liebe Freunde,

hier kommen die allerherzlichsten Grüße von mir zu euch – und ein letzter kleiner Newsletter in diesem ereignisreichen Jahr. Ich bin gestern Nacht von einer weiteren Konzert-Tour zurückgekehrt und fühle mich erschöpft und lebensmüde, gleichzeitig auf merkwürdige Weise ermutigt und beschwingt durch die vielen wunderbaren Begegnungen mit all den Menschen (und/also einigen von euch!), die wie ich auf der ständigen Suche nach Sinn in all dem Wahnsinn und Frieden in all dem Krieg sind, der uns alle täglich umgibt.

Gestern früh bin ich auf der schönen Nordseeinsel Sylt aufgewacht. Nach einem kurzen Strandspaziergang bin ich im Morgendunst durch das verschlafene Dörfchen geschlendert, in dem ich Quartier genommen hatte. Und alles war still. Es kam mir fast vor wie eine Sinnestäuschung. Alle Kneipen, Restaurants und Souveniershops waren geschlossen, das Leben spielte sich nicht auf den Straßen den Gässchen oder den Stränden ab, sondern - wenn überhaupt - in den schwachbeleuchteten Wohnzimmern der Einheimischen, von denen einige wahrscheinlich nicht mal im Traum daran dachten, an einem so unfreundlichen Tag auch nur einen einzigen Schritt vor die Tür bzw. vors eigene Bett zu setzen. Winterschlaf. Und ich erwischte mich wieder bei dem Gedanken, dass es möglich sein müsste, deutlich mehr Ruhe und Gelassenheit in unsere Leben einzuladen. Aber, ach ja, nee, da is ja noch was. Zeit für Stille? Das muss man sich ja erstmal leisten können.

Ich werd das Fass jetzt nicht unnötig öffnen und bin mir natürlich auch darüber im Klaren, dass es immer ganz extrem damit zusammenhängt, in welchen „Kreisen“ man sich gerade aufhält und welchen Menschen man begegnet– aber mir scheint es doch unübersehbar, dass die Welt „da draußen“ (die wir natürlich alle selbst sind) in Bezug auf Leistung immer unnachgiebiger und deutlich härter wird. Alles wird bewertet, beurteilt, gekauft, verkauft, alle beißen sich ständig durch, alle dealen möglichst zu ihrem Vorteil, sei es im Business oder privat, alle sind irgendwie neurotisch, irre, drüber, drunter, alle klagen ständig über alle und alles, alle sind verschuldet, alle brauchen Therapie (glücklich jene, die einen Platz kriegen – leider reichen die Milliarden, die die Bundesregierung mit Waffendeals reinbringt ja nicht unbedingt für diese Art von medizinischer Versorgung), alle kämpfen verbissen um „Likes“ im virtuellen und im echten Alltag. Die Angst, die als vermeintlich nicht „funktionierender Mensch“ erlittenen Traumata nicht überwinden zu können und mit diesem Stempel des Scheiterns nichts Besonderes mehr sein zu können sein, dabei von den „Glücklichen und Erfolgreichen“ weiter übersehen zu werden, nirgendwo erkannt zu sein, schnürt so vielen Menschen Seele und Kehle zu. Das ist langsam wirklich nicht mehr witzig.

Und in all dem Bemühen, irgendetwas darzustellen, was wir vermeintlich sind oder auch eben nicht sind, übersehen wir irgendwie zwanghaft, dass es ja gar nicht mehr gibt, als dieses Sein, dieses Wunder, das uns geschenkt wurde, den himmlischen Funken, der in uns glüht, der uns einfach lebendig sein lässt, der uns die Fähigkeit verliehen hat, einfach (sic) zu sein, wenn möglich einfach zu lieben. Was suchen wir eigentlich, die Nase ständig auf der staubigen Straße?

Kürzlich hab ich mal ein Interview mit dem Singer-Songwriter John Mellencamp gelesen, in dem er gefragt wird, wie er eigentlich so damit zurecht kommt, dass er kein „Superstar“ mehr ist und wie er das alles nach Herzinfarkt, Verlust von Ehe, Beziehungen und guten Deals eigentlich so sehen würde. Er antwortete, dass er Jahre damit verbracht hat, wie ein verbissener Hornochse zu versuchen, wieder „nach dort oben“ zu kommen – dann hätte er aber eines Tages nach kurzem Innehalten aufgegeben, weil festgestellt: „Hm. Shit. Ich versuche also wieder nach da oben zu kommen. Aber … ähm. Da war ich ja schon. Und da ist ja gar nichts!
Erinnert sich zufällig noch jemand an den wunderbaren Ausspruch von Jesus - den mit den „Lilien auf dem Felde“? Für die vielen Seelen, die das entweder vergessen haben oder gar nicht wissen wollen, die dazu womöglich nicht mit exorbitanter Leistung-bis-zum-Unfallen-Bereitschaft und einem Durchsetzungsvermögen gesegnet/gestraft sind, das sich mit Inbrunst und breiter Brust in all die tosenden Herbst- und Winterstürme des zivilisierten Dschungel-Lebens stellt, ist das Leben in dieser Welt ein ganz schön heftiger Ritt. Ich kann natürlich nicht sicher sein.. aber ich glaube, ihr versteht. Ich fühle mich da jedenfalls beteiligt. Für mich ist das Leben ein heftiger Ritt.

Ich überspringe mal das „Unwort des Jahres“ (was auch immer das diesmal offiziell sein mag) und komme flugs zu meinem persönlichen „Unsatz des Jahrzehnts“. Er ist nicht neu, fiel mir im Vorfeld der Bundestagswahl aber wieder ein paar Mal ins Auge: Er lautet „wir müssen fördern und fordern“ und bezeichnet (mit gefühlt süffisantem Unterton) wohl so etwas wie den Grundpfeiler unseres Wuchtbrummen-Sozialsystems.

Für mich, einen Menschen, der trotz und in all seinem alltäglichen Scheitern immer weiter (jawohl, jawohl, natürlich auf äußerst unvollkommene Weise – habt ihr den Korken gehört, der grad mit Schmackes aus dem Flaschenhals flog?) versucht, das Wesen der Gnade, der Vergebung und der Liebe zu erspüren, ist das an Zynismus kaum zu überbieten, heißt es doch nichts anderes als: Hey, verstehst du nicht? Es gibt hier verdammt nochmal keine Geschenke, es gibt keine Barmherzigkeit. Alles ist Leistung. Du bekommst nur etwas, wenn wir dafür etwas zurückbekommen. Aber mal ehrlich: Screw it. Dieses System, das sich in uns allen längst einen lauschigen Platz an den Spirituosenfässern der Hobbykellerbar gesichert hat, ist doch nicht nur im Begriff zu scheitern, sondern schon längst in Tausende von Teilchen zersprungen. Dummerweise sind diese Teilchen aber keine Theorie, keine physikalischen Einheiten, sondern menschliche Seelen. Es sind jene Seelen, die entwürdigt in den Randbezirken unserer inneren und äußeren Shoppingmeilen (oder auch: Arge & Co und so) kauern und nichts anderes ersehnen, als etwas geschenkt zu bekommen, ohne dafür etwas leisten zu müssen. Und nein, ich sage es vorsichtshalber mal dazu: ich meine nicht Marzipankartoffeln, sondern Würde, Liebe und Wertschätzung. Und ich rede auch nicht nur von den offensichtlich Gescheiterten, sondern von uns allen.

Ich bin dabei nicht naiv genug, zu glauben, dass die Liebe und der in ihr enthaltene Geist des Gebens das Leben auf dieser Welt jemals regiert hätten, aber ich bin immerhin naiv genug zu glauben, dass es möglich ist, diesem Geist wenigstens einen kleinen, vielleicht wachsenden Teil unserer eigenen kleinen Welt zu überlassen. Deshalb schreibe ich diese Zeilen hier also in meinem Weihnachtsnewsletter. Wahrscheinlich schreibe ich sie aber auch, weil ich mich gesegnet und beschenkt fühle, da ich Menschen kennen und sogar meine Freunde nennen darf, die sich von dieser Liebe geleitet fühlen.

Auch wenn es immer wieder überraschend ist: Weihnachten ist tatsächlich ja nicht das Fest des Ipad-Schenkens. Es ist Symbol für das ultimative Geben – ob man's nun glaubt oder nicht, die Symbolik ist und bleibt ja großartig: in einem kleinen Stall in Bethlehem kommt derjenige zur Welt, dessen Geist uns allen die Freiheit schenkt, nicht mehr leisten zu müssen – sondern „nur“ noch sein zu dürfen, wozu wir alle hier sind: Zu lieben, uns selbst in dieser Liebe gegenseitig zu verschenken. Ein Geschenk, die Erlaubnis zur Barmherzigkeit: Die Welt des „Forderns“ zu einer Welt des Gebens zu machen, in der wir alle automatisch „gefördert“ werden. Da ist kein Müssen. Aber Dürfen.

Ich habe in den vergangenen Wochen auf Tour viel über die „Revolution“ gesprochen und gesungen, die auf unserem neuen Album Titel und Thema ist (siehe die älteren Newsletter bzw. im Blog) – und ich habe dabei so viele wunderbare Rückmeldungen bekommen, in denen mir die Menschen erzählen, dass sie sich wirklich angeregt fühlen, es zu wagen, Schritte in diese Richtung „Loslassen statt Rechthaben“ und „Gnade statt Moral“ mitzugehen. Einige haben mir geschrieben, sie hätten „es getan“ und mir von den Veränderungen berichtet. Das ist wirklich wunderbar – und auch für mich sehr ermutigend. Ich selbst maße mir dabei ja nicht an, darüber mehr zu wissen als irgendjemand von euch. Mehr noch: Ich bin und bleibe Praktikant. Ich habe deshalb wohl einfach Sehnsucht danach, dass es uns irgendwie gemeinsam gelingt. Geben und Nixzurückwollen. Fördern und Schenken. Fördern und Klappe halten.

Ich verzichte hier des weiteren ausnahmsweise mal auf sämtliche Profanitäten, erst recht also darauf, auf meine aktuellen Werke hinzuweisen. Nur eines davon (kost aber nix) sei euch bei Interesse ans Herz gelegt, nämlich das frischgedrehte Video zu einer akustischen Version unseres Songs „N.O.A (nach oben abstürzen)“, das Henry, Karsten und ich spontan in all dem Trubel zwischen ein paar Tourterminen bei mir zuhause im Wohnzimmer aufgenommen haben. War ein ziemlich gemütlicher Abend. :-) Es ist übrigens ein Liebeslied (inkl. Sehnsucht, siehe oben, siehe immer, siehe unten) Wahrscheinlich überrascht das ja niemanden so wirklich. :-) Hier isses:




Oh, bevor ich's vergesse und sich noch jemand über den Bruch von alten Bräuchen beschwert. ;) Hier natürlich noch mein Zitat des Monats.

Du bist überall – trotzdem habe ich Heimweh nach Dir“
(Rumi)

Ich wünsche euch allen ganz wunderbare Weihnachten und ein frohes und schönes neues Jahr. Wir sehen uns auf Tour oder bei anderer Gelegenheit. :-)

pax
jens


Alben
IV: Revolution (2013) Anklagend Schweigend Rosenrot (2012) Am Ende des Tages (2012) Viva Dolorosa (2010) Reisefieber (2007) Himmelherz (2005)

Bücher
Interview mit dem Teufel (2011) Der Tag des Schmetterlings (2009) Steiner (2007)

Videos auf YouTube.

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