BÖTTCHER-NEWSLETTER
07/2014
DIE RÜCKKEHR DES MANNES IM
SPIEGEL.
… plus
Tourdaten, „Tiefsehtauchen“ auf dem Weg, dazu vielleicht ein
neues Buch (vielleicht auch nicht).
Hallo liebe Freunde,
hier kommen die
allerherzlichsten Grüße von mir zu euch - willkommen in meinem
kleinen Mid-Sommer-Newsletter. Und frei nach dem Motto
„warum-nicht-einfach-mal-was-anders-machen?“ mach ich's heute
einfach mal anders. Also erst die schnöden Updates, dann ein
surrealer Erlebnisbericht aus gegebenem Anlass. :-)
1.JENS BÖTTCHER &
DAS ORCHESTER DES HIMMLISCHEN FRIEDENS AUF TOUR MIT DEM AKTUELLEN
ALBUM „IV:REVOLUTION“
August
03.08. Hauskonzert Buchholz
i.d. Nordheide
08.08. Hauskonzert
Neu-Wulmstorf
16.08. Prinzenbar,
Hamburg!! Als Special Guest von Jann Klose. Unser einziges
Hamburg-Konzert in diesem Jahr - in einem der schönsten Clubs der
Stadt. Das Orchester des himmlischen Friedens zu diesem speziellen
Anlass (bei dem wir auch eine ungewöhnliche Setlist spielen werden):
Anne Maren Falk (Cello, Percussion), Sven Urbatzka (Klavier,
Akkordeon, Gitarre, Gesang), Karsten Deutschmann (Bass, Bratsche,
Beatz, Gitarre, Akkordeon, Percussion). Henry vertritt derweil unsere
Fahne bei einer Segelregatta. ;)
Wir würden uns ganz riesig
freuen, euch zu sehen!
November
Revolution 2014-Tour mit
Konzerten in u.a. Engelskirchen, Geilenkirchen, Cochem, Freudenstadt,
Hilzingen, Winterthur (Schweiz), Luzern (Schweiz), Linz (Österreich).
Mehr Details demnächst.
2. TIEFSEHTAUCHEN MIT JENS
BÖTTCHER
Dank der wunderbaren
Unterstützung und Sponsoring-Hilfe der Firma Hartmann
Elektrotechnik, Hamburg, und ganz besonders dem dortigen Chef,
unserem lieben Freund Willi Neumann, sowie der freundlichen
Kooperation mit Bibel TV, ist es uns nun möglich geworden, unser
eigenes kleines TV-Format „Tiefsehtauchen“ zu produzieren und
noch in diesem Jahr on Air zu bringen. Sendestart für die
erste opulente Staffel ist im Oktober – mit wunderbaren Talkgästen
wie Eugen Drewermann, Johannes Falk, Dania König, Sarah Brendel u.a.
Mehr Details zu „Tiefsehtauchen“, Trailer etc. demnächst hier,
in der U-Tube (der Tiefsehtauchen-Kanal geht dort ebenfalls im
Oktober an den Start) und auf Bibel TV. Sendetermine: Ab Oktober dann
immer Samstags um 18.30h und Sonntags um 23.30h.
3. NEUES BUCH –
VERÖFFENTLICHUNGSDATUM NOCH UNKLAR.
Einige von euch haben
nachgefragt: Ja, ich schreibe weiter an einem neuen Buch. Es ist eine
Text- und Gedankensammlung im Stile der „Anklagend Schweigend
Rosenrot“-CD. Ob es noch in diesem Jahr erscheinen wird/kann, ist
allerdings noch etwas unklar. Grund: Die Tage haben skandalöserweise
weiterhin allesamt nur 24 Stunden. Verschiedene Petitionen, die ich
im Laufe der vergangenen Monate auf den Weg und ins Netz gebracht
habe, um diesen eigentlich unzumutbaren Zustand mit gleichgesinnten
Beschwerdeführern zu beklagen, sind fruchtlos verhallt – was vor
allem daran liegt, dass es offenbar gar keine gleichgesinnten
Beschwerdeführer gibt. Habe mir notiert, das Problem bei Gelegenheit
mit meinem Therapeuten zu erörtern (sobald dieser von seiner
Marmorkuchen-Entzugs-Reha zurück ist). Kurzum: Ich hoffe, es klappt
mit dem Buch zur Novembertour, aber ich weiß es nicht.
Irgendwie halbwegs passend:
Aus gegebenem Anlass ein vielleicht wichtiger Text. Wenn ihr lesen
mögt... und eine Tasse Kaffee/Tee, etwas Zeit/Muße zur Hand habt.
Bon Voyage.
***
3. Die Welt, wie sie der
Mann in meinem Spiegel sah, nachdem er sich überraschenderweise
länger als eine Woche nicht hatte blicken lassen.
Ich hatte eine Weile
gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, dass der Mann in meinem
Spiegel fehlte. Tatsächlich war er jetzt schon länger als eine
Woche fort gewesen, was übrigens nicht nur das Rasieren erschwerte,
sondern sich auf merkwürdige und gar nicht so oberflächliche Weise
anfühlte, als würde ein Teil meines Selbst fehlen. Ganz sicher
wurde dieses Gefühl auch verstärkt durch die paar Zeilen, die er
zum Anlass seiner kleinen Auszeit auf einen kleinen Zettel
geschrieben und auf dem Rand meines Waschbeckens hinterlegt hatte:
Niemand ist je einsamer, als jener, der den dialog- und
wandlungsbereiten Teil von sich selbst verliert.
Es
war sonderbar ohne ihn. Nun war er wieder da. Ich war froh und
hob meine Hand zum Gruß. Mein Spiegelbild machte nicht mit. „Um
eben dieses Thema geht es, ums Selbst“, hob er an, als hätte
er die Gedanken gelesen, die ich mir soeben versehentlich gemacht
hatte:
„Was ich dir jetzt sage, ist
zwar womöglich nur der Versuch einer Bestimmung dieses Selbst im
Lichte des Bewusstseins der Unmöglichkeit desselben, schon aufgrund
der permanent verschobenen Perspektive des automatisch der
hochnäsigen Eitelkeit verdächtigen Beobachters, also mir oder dir –
dennoch möchte ich diese Gedanken dringend mit dir teilen, damit du
sie dann, sofern dir irgendwie danach sein sollte, in die Welt
hinausposaunen kannst“.
Während mein mir
normalerweise unabkömmliches und identisches Gegenüber mich so
direkt ansprach, änderte es dabei überraschend gleich mehrfach die
Pose - womöglich um mir zu beweisen, dass es nicht wirklich
gezwungen war, mich permanent nachzuahmen.
Dann fuhr er fort, der Mann in
meinem Spiegel, der mir ganz und gar nicht unähnlich sah. Ich blieb
derweil für Minuten stumm und schaute ihn einfach nur verblüfft und
staunend an. Jedenfalls nehme ich das an – ich konnte mich dabei ja
nicht sehen.
„Ich glaube, viele Menschen,
die in unserem Teil der schönen und zivilisierten westlichen Welt
leben“, macht er weiter, „haben eine Menge guter Gründe, traurig
zu sein oder unter sogenannten depressiven Verstimmungen zu leiden -
so nannte es ja ein Psychotherapeut vor Jahren ja mal in deinem und
meinem Fall. Er wollte damit wohl sagen, dass unser Zustand
medizinisch nicht weiter bedenkenswert sei, bzw. durchaus
berechtigter Anlass zur Hoffnung bestünde, dass es mit uns
irgendwann auch wieder mal bergauf gehen könnte. Depressive
Verstimmungen dürften nun aber ja recht verbreitet sein. Jedenfalls
bei den Sensiblen unter uns, jenen, die, im Gewitter geschlüpften
Küken gleich, versuchen, die Augen für etwas zu öffnen, das in
Ermangelung der ewigen Wahrheit doch zumindest temporäre
Wahrheit wäre.“ Ich war fassungslos. Mein Spiegelbild sprach
tatsächlich mit mir. Und hörte nicht auf.
„Die Welt ist offenkundig
nicht nur ein wunderschöner, sondern auch ein verdammt anstrengender
Ort, im Grunde ist dabei ganz egal wer man ist, egal wo man sich
aufhält. Auf der wundergetränkten Habenseite ist der Zauber der
Natur, sogar im Gewitter!, das Wunder des Lebens an sich, hin und
wieder ja sogar in der Bestie Mensch sichtbar, in allem die
erschütternde Perfektion des ganzen Universums! – all das ist, im
Lichte des - frei nach Exupèry - mit dem Herzen sehenden Auges,
ja wirklich ganz unbeschreiblich und zauberhaft. Die Schönheit
unserer akuten oder wenigstens temporären Liebesgeschichten
untereinander dabei gar so atemberaubend, dass wohl kein noch so
begabter Poet dafür jemals die richtigen Worte finden könnte. Ein
Wunder jagt hier das Nächste, ein Blatt fällt, ein Neues wächst,
ein Mensch liebt, ein anderer wird durch dieses innere Wehen sogleich
von Engelshand berührt, vom Wind des Himmels geküsst. Doch ebenso
wie die Schönheit, sind auch die Katastrophen, Probleme und
Herausforderungen überall speziell. Millionen von bedauernswerten
Menschen weltweit haben kein Dach über dem Kopf, leiden an Hunger
und Durst, an schlechter medizinischer Versorgung. Und wenn man auch
nur fünf Minuten am Tag damit zubringt, den Weltspiegel der
Tageszeitungen durchzublättern, stellt man fest, dass wir das
hundsgemeine Mittelalter noch längst nicht hinter uns gelassen
haben. Es gibt furchterregend viele Länder, in denen die Menschen
von seelen- und gehirnamputierten, gewalttätigen Diktatoren
unterjocht werden, Länder, in denen es nicht wie bei uns möglich
ist, zu sagen, was man denkt, zu glauben, was man glaubt, zu lieben,
wen man liebt. Natürlich ist es mit Blick darauf durchaus legitim zu
konstatieren, dass es uns europäischen, amerikanischen und
asiatischen Zentralgroßstädtern im Vergleich auf beinahe skandalöse
Weise gut geht - sofern man eben materielle Güter wie Essen, Trinken
und die Dächer über unseren Köpfen als Maßstab nimmt. Aber das
ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Wer hat sich das eigentlich
ausgedacht? Dieses: Es gibt doch keinen Grund zu klagen, du
Hobbit, dir geht es wohl zu gut!? Wer immer der Urheber dieser
infamen Lüge ist, wir sollten aufhören, ihn in unseren Herzen zu
Wort kommen zu lassen. Die so genannten depressiven Verstimmungen
der Vielen sind eine Warnung, wir sollten sie nicht länger
übersehen. Mahnen sie uns nicht, dass es Zeit für uns geworden ist,
zu verstehen, dass alles miteinander verbunden ist, wir alle
zusammenhängen, in dem berühmten selben Boot sitzen? Es ist das
Boot, in dem afrikanische Flüchtlinge auf dem Mittelmeer verenden,
in dem gescheiterte westliche Industrielle sich ebenso wie ruinierte
Baumwollfarmer in Indien selbst erschießen, das gleiche, in dem
imperialistische Konzerne Freihandelsabkommen und Wasserrechte unter
sich ausmachen und eine Diktatur des Marktes errichten, unter der wir
alle uns mittelfristig zu beugen haben werden. Ist es nicht Zeit zu
verstehen, dass der einst so gefeierte und von allen akzeptierte
sogenannte freie Markt, der Neo-Kapitalismus, tatsächlich auch eine
Form des Kannibalismus ist? - ein mörderisches, gieriges,
zerstörerisches und selbstverzehrendes System, das ganz
offensichtlich direkte Verantwortung dafür trägt, dass es die immer
weiter und dramatischer auseinanderdriftende Kluft zwischen
Hungernden und materiell-Sorglosen auf der Welt überhaupt gibt?
Eines, das sich mittlerweile sogar traut, direkt vor unseren Augen,
sogar in unserem vermeintlichen Wohlfühl- und Wohlergehensland
„gescheiterte“ (also nicht genug „leistende“) Menschen wie
Müll zu behandeln, auszugrenzen, zu entwürdigen? Die folgende Frage
mag naiv klingen, aber ich stelle sie dir trotzdem mal: Kann es
wirklich sein, dass irgendjemand von uns noch ernsthaft glaubt, seine
eigene Seele könne auf Dauer unbeschadet bleiben, wenn er täglich
ein in sich korruptes System mitträgt oder gar befeuert, das
Menschen in seinem eigenen und anderen Ländern auf derart schamlose
Weise ausbeutet und ausgrenzt, dass sie hungern oder dürsten müssen,
dass sie und ihre Kinder des Nachts im Winter erfrieren oder dass in
ihm die sogenannten Gescheiterten sich eben vom Hochhausdach stürzen,
weil sie zuvor aus dem Rahmen der gesellschaftlichen
Leistungsrichtlinie herausgefallen sind. Leistung=Besitz=Glück? Ein
System, in dem Menschen ihren eigenen Wert über finanziellen Erfolg
gewinnen und sich eben dann reihenweise selbst töten oder in die
Verzweiflung stürzen, wenn zuvor ihre Aktien abgestürzt oder ihre
Firmen in den Bankrott gegangen sind? Wo andernorts, meist auf
anderen Kontinenten, also weit genug entfernt, um es schnell wieder
zu ignorieren, einheimische Familien zu verdursten drohen, weil die
Mineralwasserhersteller, denen wir Europäer schick und reichlich
Lobbygelder verdanken, ihnen zuvor das Trinkwasser abgegraben und
hinterher für unerschwingliche Preise im Supermarkt in
Plastikflaschen angeboten haben? Wo weiter zur Gewinnmaximierung
Regenwälder abgeholzt und Tiere zu Forschungszwecken gequält und
Menschen aller Rassen, sexueller Orientierungen, Farben und Formen
diskriminiert, degradiert und bis aufs Mark entwürdigt werden? Wo
stümperhaft gewartete, antiquierte Atomkraftwerke in die Luft
fliegen und des weiteren von uns allen alles dafür getan wird, so zu
tun, als wäre bloß eine kleine Tüte Reis umgefallen. Wo die Bilder
der entwurzelten, verzweifelten, vor Völkermördern fliehenden
Familien, der Mütter, der Kinder, schneller wieder aus den
Nachrichten und unserem Bewusstsein verschwinden, als man einem
Nackthund die Haare waschen kann? Ein System, in dem die Menschen dem
Duft des Geldes und der Macht hinterherhecheln wie ein Hirsch der Kuh
in der Brunft.
„Sind wir wirklich so
blind?“ ist wohl allerdings, trotz aller unterschwelligen und im
Grunde rührseligen Suggestion, die völlig falsche Frage. Überhaupt
ist jede Frage dieser Art falsch, wie auch immer exakt sie lautet,
denn ja, wir sind ganz offensichtlich wirklich so blind. So stumpf.
Oder vielleicht auch so ohnmächtig. Ich glaube, das trifft es doch
viel besser. Zumal dieses System nicht im Außen aufhört, sondern
unser Innerstes betrifft, denn es kommt ja nicht von ungefähr,
sondern von eben da - aus unserem Inneren. Es kommt aus unserer
Geschichte. Die scheint es sich gefallen zu lassen, uns alle auf
einem Aussichtsturm zu versammeln, von dessen luftiger Höhe wir wie
die bekifften Vollidioten ausrufen: Schau doch nur wie schön
unser Reihenhaus ist, Annegret. Wir haben es auf den Kadavern von
indischen und afrikanischen Kindern gebaut. Aber wir haben doch ein
herrliches Leben, nicht wahr? Kannst du mir mal die
Nestlé-Plastikwasserflasche rüberreichen bitte? Und wo sind denn
die Kreuzfahrtickets, Mäuschen? Die Enkel in der Nervenheilanstalt
besuchen können wir dann ja auch später noch.
Das Monster, das wir
geschaffen haben, scheint dabei wirklich für viele unter uns
Ohnmächtigen immer noch das kleinere Übel zu sein. Und vielleicht
stimmt das sogar. Wenigstens gibt es hier bei uns im zivilisierten
und industrialisierten Westen so ungefähr achtundvierzig Trilliarden
Regulierungen, Gesetze, Belehrungen, die wenigsten den Hauch von
Ethik und moralischem Miteinander implizieren oder begünstigen. Und
ja, es stimmt ja alles weiterhin, es ist außerdem überaus korrekt:
immerhin kommt man bei uns nicht ins Arbeitslager, wenn man dabei
erwischt wurde, in den falschen Gottesdienst gegangen zu sein.
Glückwunsch, wir haben es gut. Und ja, man hat die Freiheit, es zu
etwas zu bringen, solange man klug und fleißig und adrett ist und
dabei guttrainierte oder gepolsterte Ellenbogen hat (und dazu
möglichst noch aus finanziell gutgestellten Kreisen stammt). Dieses
Maß an Freiheit scheint uns also für den Moment zu reichen. Jeder
kann es schaffen, wie wir es geschafft haben, nicht wahr, Annegret?
Wir sind wahrscheinlich
wirklich wenigstens die glänzende Speerspitze der ohnmächtigen
Idiotenversammlung. Aber da bleibt immer noch die Frage: verpflichtet
uns nicht eben das geradezu, die Ohnmacht wenigstens langsam,
schemenhaft, zu erkennen, sie zu entlarven, das eigene Reihenhausdach
mit anderen Augen zu sehen und gleich nach der folgenden
Seelenerschütterung einen ganz neuen Weg einzuschlagen, unser
eigenes Herz wiederzuentdecken? Jesus, bitte leg uns Blinden die
Hände mit dem Spucke-Lehm-Mix ein zweites Mal auf, damit wir
wenigstens die Umrisse der anderen Seelen erkennen. Denn was ist mit
den Gefühls-„Kosten“, den Schäden für jene Menschen, die
entweder nicht mit dem Privileg der Geburt auf den richtigen
Breitengraden oder mit zu großen Mengen schmerzhafter Sensibilität
und geistiger Feinheit gesegnet sind, um darin oder am Rande dessen
länger unbeschadet bestehen zu können? Was ist mit dem
unausweichlichen Seelenschaden, den wir alle, die Individuen einer
bis vor kurzem doch recht „gut“ funktionierenden demokratischen
Gesellschaft, erleiden müssen, wenn wir das größere und
essentielle Bild von regionaler und weltweiter Mitmenschlichkeit und
Brüderlichkeit aus den Augen verlieren, beziehungsweise es nie dazu
kommt, dass unser Sichtfeld diese naiv-scheinenden Inhalte überhaupt
registriert? Man kann nicht umhin, entweder schlapp oder traurig
festzustellen, dass wir alle eine Horde von Schläfern sind. Wir
alle. Denn wenn der Wunsch es zu ändern, bereits akut wäre, dann
würde es wohl geschehen. Wir fliegen ja auch zum Mond und errichten
Luftbrücken und sind barmherzig genug, Milliarden von Euros und
Dollars in Krisenregionen zu schicken, die von Naturgewalten
heimgesucht werden. Wir können, wenn wir wollen, wir greifen ein,
wenn wir sehen. In diesem Fall sehen wir nicht. Oder wir sehen nicht
hin. Es scheint noch nicht so weit zu sein. Weder Mut noch Güte gibt
es in Plastikflaschen. Womöglich wird man in 1000 Jahren auf diese
Epoche der fortschreitenden Mammondiktatur zurückschauen und sie in
einem Schulunterricht, der keine Noten mehr braucht, weil längst
verstanden wurde, dass nicht leistungshervorpressende Angst vor
Versagen, sondern Freude am Gelingen der Schlüssel zu friedvollem
Miteinander ist, kopfschüttelnd betrachten als die Zeit der
eskalierten Habgier, der hemmungslosen Egozentrik und der stumpfen,
lethargischen Lieblosigkeit. Sollten wir nicht also wenigstens - auch
wenn die neue Zeit noch nicht gekommen ist, zu verstehen, den Blick
zu korrigieren - ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie kommen
wird? Dass die später auf dieser wundervollen Welt lebenden
Seelen fragen werden, warum wir vor unserer Ohnmacht kapituliert
haben? Warum wir nicht still geworden sind, den Blick gesenkt haben,
in uns gegangen sind, um dort eine liebevolle Mitmenschlichkeit zu
finden, die das vielleicht alles hätte verhindern können?
Klingt es nicht verlockend? So
verlockend wie vor zweitausend Jahren schon, als Jesus uns eben diese
Botschaft hinterließ? Selig sind die Barmherzigen, die Traurigen,
die Friedensstifter, jene, die ihre Feinde lieben. Warum tun
wir es also alle nicht? Die Revoluzzer nicht, die vermeintlich und
wirklich Gläubigen nicht, die Klugen nicht, die vor Missionseifer
glühenden Religiösen nicht, die Guten nicht, die Sanften nicht?“
Der Mann im Spiegel schaute
mich nach seinem atemlosen Wortschwall eindringlich an. Ich war etwas
überrascht davon, dass er plötzlich eine Pause machte. Ich seufzte,
teils weil ich mich schlicht überrumpelt fühlte, teils wegen der
inhaltlichen Wucht und der nun im Raum stehenden Frage, die ich
keineswegs beantworten konnte.
„Ich sage es dir, falls es
dich betrifft“, machte er glücklicherweise weiter, ohne eine
Antwort von mir abzuwarten. „Es folgt nun nämlich ein wesentliches
Ach, das sämtlichen selbsternannten Weltverbesserern unter
uns sogleich alle erhobenen Zeigefinger brechen und alle
Weisheitszähne ziehen sollte: Es gibt in all dem also dummerweise
eine Hürde zu überwinden, die man weder mit Gewalt noch mit
politischen Umstürzen bekämpfen oder bewirken kann, nichtmal mit
der Wucht des aufrichtigen Wollens, nicht mal der größten Disziplin
gegen sich selbst: Das sind die Seelen in unserem Spiegel. Das bist
du. Das bin, genauer gesagt, ich. Das vermeintliche Selbst, das mit
sich eins wäre. Das vielleicht-Ich, das wandelbare Ich, das Du-Ich,
das stets und zutiefst Höchstindividuelle. Es scheint, selbst wenn
wir wollen oder wollten: wir sind offensichtlich noch nicht soweit,
wirklich zu können. Die Evolution der Seelen ist vielleicht
in vollem Schwung, aber wenn das stimmt, dann ist der Kreis noch
nicht geschlossen.“
Ich wusste absolut nicht, was
ich sagen sollte und versuchte, meinen Blick abzuwenden und noch
etwas mehr Orientierungslosigkeit vorzutäuschen.
„Nein, schau mich gründlich
an“, forderte mein Spiegelbild nun. „Was entdeckst du?“
Ich zögerte, da ich verstand,
dass es nichts über unsere sorglose Rasur erfahren wollte.
„Keine Ahnung. Ich sehe nur
Überforderung“, sagte ich, „aber ich weiß gerade nicht, ob es
meine oder deine ist.“
Der Mann im Spiegel nickte.
„Ja, du siehst Überforderung, die Anstrengung, den schleichenden
Kampf darum, die Unmöglichkeit, uns aus uns selbst überhaupt in ein
schöneres, anders schauendes „neues“ Selbst wachsen zu lassen,
das sich von dem Alten mit aufrichtiger Hingabe loszulösen vermag.
Du siehst ein Selbst, das keine Weltenschelte verdient, das gar nicht
wirklich auf der faulen Haut liegt, sondern sich wirklich verändern
möchte, aber nicht schneller und besser kann. Das sich täglich an
sich selbst grämt und reibt und in diesem Prozess Zweifel gebiert,
die zuweilen so stark sind, dass es sogar fast unmöglich scheint,
dieses unvollkommene Selbst für wirklich liebenswürdig zu halten.
Du siehst Angst, die aus der Reflektion entsteht. Sobald sie zu tief
geht, schreckst du zurück – und ich mit dir. Aber wenn du jetzt
ganz genau hinsiehst, entdeckst du gleichzeitig ein Selbst, das sogar
von gewisser - immer dann wenn es liebt, sogar von atemberaubender -
Schönheit ist, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, woher diese
denn eigentlich kommt; ein Selbst, das bereits durch so vieles
gegangen ist, viele Schlachten geschlagen und viele Lieder gesungen
hat. Es hat Zeile um Zeile geschrieben, stets im Bemühen innerlich
weiterzukommen. Es hat Zärtlichkeiten und Dummheiten verteilt und
eine Reihe von Triumphen und Niederlagen genossen oder erlitten, die
mit dem leicht zu kritisierenden Außen ja nur peripher überhaupt zu
tun haben. Dieses Selbst, das längst darüber hinweg ist, auf die
„Anderen“ zu schimpfen, weil es versteht, dass es Selbst die
Anderen ist, dass es wirklich im „gleichen Boot“ sitzt und
es keinen Grund gibt, das länger zu leugnen. Hier im Spiegel ist
dieses hoffende und darin langsam wieder einem Kind ähnlich werdende
Selbst, das dennoch so oft vergeblich versucht, sich, das kleinere
Selbst gleichzeitig im größeren Selbst von allem zu begreifen und
daran schon allein wegen der Unmöglichkeit der Perspektive immer
wieder scheitern muss. Dieses Selbst kann doch im Grunde nichts tun,
als festzustellen, dass es selbst nichts weiter erlebt, als
eine Freiheit zu ersehnen, die nach scheinbar Unmöglichem, nämlich
nach ewiger Heimat und Geborgenheit duftet - für sich, vielleicht,
in den besten Momenten, gar für alle. Für die Pleitemanager, die
vom Hochhaus springen, ebenso wie für die armen, vergessenen Kinder,
deren Bäuche seit Wochen, Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten nur mit
heißer Luft gefüllt sind. Freiheit. Ja. Verdammt nochmal: Liebe.
Ihr wird aus vermeintlich allerbesten, rationalen Gründen das
Wachstum verwehrt. Sie aus Scham und Angst vor der Wucht unserer
eigenen Traurigkeit zu trivialisieren, sie lächerlich zu machen –
das ist das eigentliche Verbrechen, das schlimmste, das man sich
überhaupt vorstellen kann.“
Ich nickte still. Mein
Spiegelbild kam langsam zum Ende seiner Rede.
„Liebe. So naiv es auch
immer wieder klingen mag. Du musst dich um mich kümmern. Ich bitte
dich darum. Du musst mich lieben, um dich und die Welt zu verändern.
Wir Spiegelbilder sind diesbezüglich alle gleich. Wir alle suchen
eine Liebe, die nichts für sich will. Eine, die einfach nur ist, die
sprachlos existiert, unveränderbar und unerschütterlich ist, eine,
die nicht mehr verdammt ist, zu suchen, weil sie alles in sich
gefunden hat, was mit Worten, Gefühlen, Verstand oder Geist
überhaupt zu fassen wäre. In ihr ist ein Selbst zu finden, das den
Wahn verliert. Solange das aber unmöglich, die lange Suche nicht von
Erfolg gekrönt ist, wird es ihm, dem losgelösten, eingebetteten
Selbst und dem was auch du folgerichtig für „dich“ hältst,
ebenso wie all den anderen lethargischen Schläfern, die ihr
abgespaltenes ich für ihr ganzes „sich“ halten, unmöglich sein,
etwas anderes zu tun, als durch den Modder zu schwimmen, der für uns
Wohlhabende ja viel mehr ein Innerer ist, dabei zu keuchen, zu
suchen, in all der gefühlten Sinnlosigkeit möglichst nicht in
Schönheit, sondern sinnvoll zu vergehen. Aber in all dem - wer mag
es leugnen, nicht trotz, sondern wegen der Ohnmacht, die uns lähmt:
Es wird Zeit für dich zu glauben, Zeit zu gehen, wenn es nicht
anders geht, dann eben im Stehenbleiben zu gehen. Zeit zu glauben,
dass es etwas anderes gibt, als dein aufgeblasenes, stolzes,
ängstliches „Ich“, dein großes religiöses, festgefahrenes,
tradiertes „rechtgläubiges“ Ich, aus dem sich immer wieder das
große, kollektive, weichgekochte, emotionslose, grausame „naja, es
wird mit uns allen schon werden“ herausschält. Tatsächlich wird
es nur werden, wenn du beginnst, der Ahnung zu trauen, das dein „Ich“
nicht im „Ich“ endet, dass es in ein „uns“ mündet, das den
Himmel, die Tulpen, die Bunten und die Dunklen, die Traurigen und die
Fröhlichen, die Verarmten und Bereicherten, die Bäume und die
Blätter und die Vögel und die Füchse ebenso beinhaltet wie dich
und mich. Und dann, nur dann, wenn es die Herzen ansteckt, wenn wir
alle außerhalb eines schließlich reformierten, nicht mehr matten
Ichs noch an etwas Höheres glauben, als unser Selbst, kann sich
endlich in uns selbst etwas zum Positiven wandeln. Wir haben
inzwischen nur uns, unsere individuelle Religion, unser Rechthaben,
unser System, unsere Leistung, unsere Orientierungslosigkeit. Nie und
nimmer wird das reichen. Wir brauchen mehr. Wir brauchen den Glauben
an etwas, das uns Vertrauen in die Schönheit unseres Wesens gibt,
etwas das mit dem Begriff „Gott“ nur sehr unzureichend
beschrieben ist, weil der Begriff schon so oft von uns allen
mißhandelt wurde. Wir brauchen etwas, das uns alle überzeugen
würde. Die Spiegelbilder, zuallererst, brauchen eure Liebe, stärker,
als sie je war, mächtiger als die immergrüne Diktatur der
Selbstanklage und Lethargie und absurden, fanatischen
Selbstgerechtigkeit.
Ich fühlte mich von dem
Wortgewitter des Mannes im Spiegel jetzt geradezu überwältigt.
„Wo und wie sollte ich
beginnen?“ fragte ich, ernsthaft erschüttert.
„Ich bat dich schon darum.
Beginn bei mir“, sagte er und klang dabei für einen Moment beinahe
flehend. „Versuch mich zu lieben und versuch etwas von mir in mir
zu sehen, dass du vergessen hattest. Und dann glaub mit mir. Glaub
mit mir, dass ich wertvoll bin, auch wenn du mich jetzt noch
verachtest, weil du mich für eine Version von dir hältst, die
nichts kennt als tiefe Angst.“
Ich schluckte. Und dann, ganz
plötzlich, tat mein Spiegelbild so, als sei nichts geschehen und
ahmte mich einfach wieder nur spröde-blöde nach, so wie es es schon
immer getan hatte. Ich war irritiert und versuchte noch ein leises
„Hallo?“, aber der Mann im Spiegel antwortete nicht mehr, sondern
sagte bloß ebenfalls „Hallo“, völlig synchron und nun für mich
völlig überraschend. Ich sah nur, wie sich seine Lippen bewegten,
exakt wie meine, seine Stimme war nur noch in meinem Kopf. Er war
wieder Teil von mir geworden, einem mir, einem Teil meines
eingebildeten Selbst, das mir plötzlich auf ganz neue Weise
unvollständig vorkam. „Liebe“ sagte ich leise und wandte mich
vom Spiegel ab, „solange ich nichts von ihr verstehe, muss ich
ihrem Duft weiter in Unbekannte folgen. Ich kann nichts versprechen.
Aber ich will es riskieren. Ich vertraue darauf, dass mich dabei
etwas tragen und halten wird, das keinen Namen hat. Etwas, das sich
auch heute noch täglich aus den brennenden Büschen der Welt als
„das ewig Seiende“ vorstellt.
***
pax
j.
www.boettchercom.de
facebook:
jens böttcher-künstlerseite oder paco de luca (privatsekretariat)